Denken - Risiken und Nebenwirkungen
Spitzer liefert einen bunten Fächer überraschender Erkenntnisse aus den Forschungen der Neurowissenschaft!
Autor: Spitzer M
Verlag: Stuttgart:Schattauer
Erschienen: 2015
Zum Inhalt
Spitzer M (2015): Denken - zu Risiken und Nebenwirkungen. Reihe Wissen & Leben. Stuttgart: Schattauer.
Manfred Spitzer ist ein Begriff für lehrreiche und stimulierende Wissensvermittlung! Aus der Perspektive der Neurowissenschaft werden die unterschiedlichsten Bereiche des Lebens betrachtet. Die Kunst dabei ist, dass diese Aussagen so geartet sind, dass keine Reduktion auf die naturalistische oder materialistische Ebene ( Phänomen X ist nichts anderes als..) vorgenommen wird, wohl aber originelle Zusammenhänge hergestellt werden (genauer gesagt: Es werden zumeist Korrelationen, gemeinsame Veränderungen und nicht Kausalzusammenhänge beschrieben) . Einige Beispiele dafür: Auf Seite 6f wird festgestellt, dass Ambivalenz in der Beziehung erleben, zu einer Verkalkung der Herzkranzgefäße führen kann (genauer: beide Phänomene werden miteinander beobachtet). Die Auswirkung einer bestimmten genetischen Ausstattung auf die positive oder negative Lebensgestaltung wird zusammen mit dem Kontexteinfluss argumentiert. Zwar gibt es auf Seite 38 Behauptungen, dass die Erbanlagen sich direkt und indirekt auswirken: auf Persönlichkeit, religiöses Erleben (!), Denkstil, ja sogar die Milchwirtschaft und die Besiedelung Tibets! Aber Spitzer setzt die Anlage nicht absolut, sondern führt weitere Faktoren an: Sozial erlernte Traditionen, Zufälle, Zeitfaktoren, Bedingungen der Existenz.
Originell ist auch der Zusammenhang zwischen Zweisprachigkeit und positiven Effekten auf die exekutiven Funktionen (zielgerichtetes Handeln, flexibles Reagieren u. v. a. m.). Spitzer bringt in diesem Abschnitt auch das Konzept der kognitiven Reserve ein: Biologische Veränderungen wirken sich weniger aus, wenn das Gehirn trainiert wird (und somit resilienter ist). Die Zweisprachigkeit erfordert eine beständige Kontrolle und bewirkt somit ein Training. Spitzer tritt aber der behaupteten Vorteilshaftigkeit von Multitasking entgegen: es führt zu einer Verminderung von Konzentration und Aufmerksamkeit (Seite 93).
Smartphones beeinträchtigen das Lernen und es gibt auch Korrelationen zu körperlicher und seelischer Gesundheitsbelastung. (Seite 120) Die Verwendung des Mobiltelefons beeinträchtigt Wahrnehmung und Reaktion und erhöht daher die Unfallgefahr. Spitzer philosophisch: "Nicht alles, was machbar ist, ist auch sinnvoll." Und: "nicht alles, was neu ist, ist damit zugleich auch schon besser!" (Seite 153).
Auf Seite 161 wird beschrieben, wie man unbewusste Einstellungen zum Partner messen kann: Es werden bestimmte Reizwörter optisch dargeboten und die Reaktionszeiten festgehalten. Spitzer führt den Impliziten Assoziations-Test an ( falls dort nicht berücksichtigt: Der Gedanke der Verwendung der Reaktionszeit geht auf C.G. Jung zurück!).
Beeindruckend ist die Gegenüberstellung der Konnektivität (Vernetzung) in männlichen Gehirnen (die neuronalen Verbindungen bestehen vorwiegend innerhalb der Gehirnhälften, also zwischen Wahrnehmen und Handeln) und weiblichen Gehirnen (Konnektivität zwischen den Gehirnhälften, also die Kommunikation zwischen analytischem und intuitivem Verarbeiten).
Aufrüttelnd ist der Hinweis, dass iatrogene Erkrankungen (Kunstfehler, Systemschwächen) die dritthäufigste Todesursache darstellen (Seite 186).
Und mit einem "Allgemeinwissen" wird aufgeräumt: Nicht immer ist die Intelligenz der Vielen der einzelnen überlegen. Positive Rückmeldungen können außerdem in der Summe zu Katastrophen führen (Seite 229)
Auf dem rückwärtigen Cover-Text steht zu lesen: "Neurowissenschaftliches Wissen unterhaltsam präsentiert - risikofrei und garantiert ohne Nebenwirkungen!" Nimmt man diese humorige Aussage ernst, so kann dem ersten Teil durchaus zugestimmt werden - dem 2.Teil aber nicht. Erstens kann diese Garantie nicht gegeben werden, weil die Rezeption und Verarbeitung der Information beim Empfänger liegt, der immer eine gewisse Unbekannte darstellt. Zweitens wäre es ja schade, wenn alle (auch die positiven) Nebenwirkungen eliminiert würden. Und drittens besteht eine direkte Proportionalität von Relevanz und Risiko einer Botschaft. Ein Beispiel: Auf Seite 66 - 71 referiert Spitzer über Geruchsinn und Lebenserwartung unter dem Motto: Wer gut riecht, lebt länger! Spitzer ist ein begeisternder "Begeisterter". Engagiert schreibt er über eine Studie, die den Nachweis liefert, dass der mangelnde Geruchssinn ein relevanter Indikator für eine verringerte Lebenserwartung ist!
Die Begeisterung über die wissenschaftliche Beweisführung übersieht den Inhalt der Schlussfolgerung.
Es gibt niederschmetternde Diagnosen, bekannt ist die pathogene "Nebenwirkung" der Mitteilung unheilbarer, ev. auch lebensverkürzender Erkrankungen. Eine derartige Diagnose hat bei manchen Betroffenen Angst und Depression bewirkt. Wenn die Diagnose massive Geruchsstörung, Anosmie oder nicht so ausgeprägt Hyposmie erhöhte Mortalität bedeutet, dann ist sie in gewisser Weise ein Hinweis darauf, dass die Lebenserwartung schon begrenzt ist. Hier würde sich der Rezensent wünschen, dass die Türe zur Hoffnung einen Spalt offen bleibt, dass die Darstellung auf vorhandene Studien hinweist oder zumindest auf Ansätze zum Verändern dieser unerbittlichen Lebens-, nein Sterbeerwartung!
Spitzer liefert einen bunten Fächer überraschender Erkenntnisse aus den Forschungen der Neurowissenschaft! Er hinterfragt scheinbar Selbstverständliches bzw. den Common Sense in verschiedenen Lebensbereichen und bringt Forschungsresultate ein, die zu mehr oder minder umfassenden Meinungs-Revisionen führen! Seine Kunst ist ein Seiltanz, er schafft die Verbindung zwischen Fachwissen, das auf dem aktuellen Stand referiert wird, und Verständlichkeit, die das erworbene Wissen in den Alltag integrierbar macht! Das Risiko bei der Spitzer-Lektüre ist, dass man danach die eine oder andere Veränderung in der Lebensgestaltung notwendig findet! Spitzer setzt dementsprechend an den Schluss seiner Kapitel immer Aufforderungen zur Reflexion und Aktion, "die Moral von der Geschichte!"