Geschichte denken. Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute.
"Geschichte wird heute anders geschrieben", verheißt der Text auf dem hinteren Cover, "vielfältiger, anschaulicher und spannender. Im Mittelpunkt stehen handelnde Menschen, ihre Alltagspraxis und Emotionen.."
AutorInnen: Wildt M (Hg)
Verlag: Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2014
Zum Inhalt
Der Herausgeber beschreibt in der Einleitung den Pendelprozess zwischen der Frage: Wozu noch Historie? und dem Geschichtsboom in Deutschland, als erkannt wurde, wie wichtig das Geschichtswissen für die Beantwortung aktueller Probleme ist (z.B. Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit). Das Pendel bewegte sich weiter zwischen der angestrebten Detailgenauigkeit von Rekonstruktionen und dem Wissen um das Fragmentarische von Überlieferungen. Ein neuer Pendelprozess findet statt von der Erwartung klarer Antworten aus der Geschichte und der pluralistischen Erkenntnis, dass es nicht nur eine Geschichte gibt und es daher darum geht: GeschichteN zu denken! Und nochmals setzt sich das Pendel in Bewegung von der Betonung der Verschiedenheit der Zugänge zur Erkenntnis des grundlegenden Zusammenhangs der Geschichten. Letzterer ermöglicht kreative, innovative Kombinationen von Fragestellungen. Z.B. wird in einem Beitrag (Winterling) auf die Unterschiedlichkeit der Strukturbildung vormoderner und moderner Gesellschaften hingewiesen. Während vormoderne Gesellschaften eine Schichtung nach Rang und Ehre aufwiesen und die freundschaftlichen Binnenbeziehungen in den einzelnen Schichten multifunktional angelegt waren (Luhmann nannte diese Gesellschaften "stratifiziert"), sind moderne Gesellschaften in differenzierte Teilsysteme gegliedert ( Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft..), die relativ autonom ihren Aufgaben nachkommen. Mit dieser systemischen Betrachtung kann man die antike Gesellschaftsgliederung teilweise als modern erkennen (ansatzweises Vorhandensein von Teilsystemen), aber auch die Moderne als teilweise antiquiert, d.h. in alten Mustern befangen, wahrnehmen.
Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Perspektiven erlaubt weitere originelle Verbindungen, z.B. die Polarisierung zwischen Bürgertum und Proletariat und ihre Symbolisierung durch den Wohnungsstandard innerhalb der Ringstraße in Wien und außerhalb, in der finsteren Vorstadt. Zugleich war damit auch eine Grenze der Moralität abgesteckt. Der Autor (Grandits) spricht -die Spannung steigernd - vom Wettstreit der Tugenden. Die Tugenden, die der Autor (Grandits) anführt, sind u.a. Anstandsregeln (z.B. das möglichst unauffällige Arbeiten des Hauspersonals im Hintergrund). Ist mit Widerstreit das Gegenüberstehen von äußerem Prunk des Bürgertums und seiner Vorzeigehaltung einerseits und andererseits das Streben des Proletariats nach Überwindung der Existenznot gemeint?
Eine thematische Erweiterung der Geschichtsschreibung findet auch statt, wenn nicht nur staatliches Handeln, bürokratische Strukturen, Regierungsentscheidungen dargestellt werden, sondern lebensnahe Beschreibungen von Menschen erfolgen, die sich mit Sexualität und Gewalt auseinander setzen, wobei ergänzend zum individualisierenden Zugang auf einer Metaebene z.B. die (Konflikt-)Codes beschrieben werden (z.B. der Links-Rechts-Code, d.h. die Kategorisierung nach fortschrittlich und bewahrend). Eine Erweiterung ist auch gegeben, wenn auf die Geschichtsträchtigkeit von Kunst(objekten) hingewiesen wird; wenn am Beispiel der spanischen Königin Isabella eindrucksvoll belegt wird, wie einzelne Personen zu Symbolträgern werden und dies aufgrund der heterogenen Erwartungen zum unausweichlichen Scheitern führen kann.
Was sich der Rezensent für künftige Auflagen des Buches wünschen würde, wäre, in einem kurzen Abriss ergänzend die Geschichtsschreibung inmitten von Nachbardisziplinen darzustellen, die Berührungszonen der Beschreibung von handelnden Menschen und ihren Motiven und Emotionen mit der Psychologie oder mit der Lebenswelt der Sozialpädagogik, oder mit der Betrachtung aus soziologischer Sicht zu erfassen, und außerdem die Spannung zwischen den einzelnen Facetten der Geschichtsschreibung - etwa sozialgeschichtlich und kulturgeschichtlich - bewusst zu machen.
Es gibt noch viele, aus Platzgründen nicht erwähnte interessante, originelle und lehrreiche Beiträge in diesem Buch. Was allen Autorinnen und Autoren gelingt, ist eine Darstellungsweise, mit der man in das Leben in vergangenen Epochen eintaucht! Die bildhaften Beschreibungen erweisen sich als nachhaltig, sie erfordern keine Gedächtnisanstrengung, sondern sind eindrucksvoll und jederzeit abrufbar. Was zusätzlich gelingt: Die Nützlichkeit geschichtlicher Betrachtungen für die Bewältigung der Gegenwart und die Ausrichtung auf eine gelingende Zukunft ist aufgrund der Lebensnähe der Ausführungen evident!