Psychotherapeutische Krisenintervention

Das Buch bringt auf 160 Seiten eine Fülle von Anregungen. Beispielsweise:
*Wichtig der Hinweis auf die subjektive Bedeutung, die einer äußeren Belastung beigemessen wird


Autor: Stein C
Verlag: Tübingen: Psychotherapie-Verlag

Erschienen: 2015

Zum Inhalt

 

Psychosoziale Krisen, meint der Autor, sind "keine Störungen, sondern Ereignisse, in die jeder geraten kann." Eigentlich Grund genug dafür, dass nicht nur Berater und Therapeuten in dem Band eine anregende und bereichernde Lektüre finden, wie U.Streeck, Herausgeber des Werkes, im Geleitwort betont, sondern auch interessierte "Laien"!

Stein ist seit 15 Jahren Leiter des Kriseninterventionszentrums Wien, er ist Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut. Während sich sein erstes Werk vor 6 Jahren mit den Spannungsfeldern der Krisenintervention (im Folgenden mit KI abgekürzt) befasste, beschreibt der Autor im Kapitel über die Grundlagen der KI deren historische Wurzeln (Nachtclubbrand in Boston vor rund 70 Jahren mit fast 500 Toten; Lindemann und später Caplan haben ein erstes Konzept der KI entwickelt), die Definition von Krisen (das chinesische Schrift-Zeichen für Krise setzt sich aus den beiden Zeichen für Gefahr und für Chance zusammen), die Faktoren, die zu Entstehung und Verlauf der Krise beitragen (wie z.B. die Krisenanfälligkeit einer Person, die Ressourcen, die subjektive Bedeutungsverleihung eines Ereignisses u.a.m.), und die verschiedenen Modelle der Krisen (Verlustkrisen, Lebensveränderungskrisen, Entwicklungskrisen usw.).

Kapitel 4 thematisiert die Wichtigkeit der Beziehung in der KI (z.B. die holding function des Therapeuten). Es folgt ein Kapitel über die Praxis der KI (etwa die Grundprinzipien der möglichst raschen Hilfe und der Flexibilität im Handeln) mit einer grundsätzlichen Differenzierung zwischen der mehr aktiven, zielorientierten KI und der eher passiv-abstinenten, Ziele erst sich entwickeln lassenden Psychotherapie. Kapitel 6 bringt drei verschiedene Krisen in einen Vergleich des Ablaufs, der therapeutischen Aktivität: die KI nach Verlusten, akuten Traumatisierungen und nach Lebensveränderungen.

Kapitel 7 schildert die wichtigen Stufen der KI: Stabilisierung, Distanzierung, Zugang zu den betroffenen Gefühlsbereichen, Klärung, Konfrontation und Problemlösung. Diskutiert werden verschiedene therapeutische Handwerkszeuge, z.B. der Einsatz von Imaginationstechniken.

Wie KI bei älteren Menschen betrieben wird, wie sich die KI vom ursprünglich sozialpsychiatrischen Schwerpunkt zur Einbeziehung von Psychotherapie verändert und weiter entwickelt hat, wie man auch elektronische Kommunikation nützen kann und welche Möglichkeiten die Email-Beratung bietet, beleuchtet das 8. Kapitel, dem dann eine umfangreiche Literatur angefügt wird.

Das Buch bringt auf 160 Seiten eine Fülle von Anregungen. Beispielsweise (die Beispiele sind nicht systematisch ausgewählt, sondern zeigen die Vielfalt der Impulse):
*Wichtig der Hinweis auf die subjektive Bedeutung, die einer äußeren Belastung beigemessen wird und über Krisenentwicklung oder nicht entscheidet (Seite 27).
*Die Indikation für KI bei überfordernden Lebensumständen (Lebensveränderungskrisen), bei plötzlichen schmerzlichen Ereignissen (Verlustkrisen), sowie bei extremen Angsterfahrungen (akute Traumatisierungen). .(S 26)
*Der Hinweis auf den Kohärenzsinn (Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit der Welt)dieser ist eine Metaressource ( S 29f)
*Der Krisenablauf, z.B. Schock, Reaktion, Bearbeitung, Neuorientierung.( S 35ff)
*Interessant ist die Beschreibung der Entwicklungskrisen, die Erikson beschrieben hat ( S 40f). Dem Konzept zufolge gibt es in jeder Entwicklungsstufe eine positive und eine negative Polbezeichnung, z.B. Urvertrauen vs Urmisstrauen, Identität vs Identitätsdiffusion. Der Rezensent meint, dass die dialektische Herausforderung höher wäre, wenn - wie der Nikomachischen Ethik von Aristoteles - die positive Haltung in der Mitte angesiedelt wäre und die negativen Extreme als Endpunkte platziert würden, z.B. Naive Arglosigkeit - Vertrauen - Urmisstrauen. Oder: Identitätsdiffusion - Identität - falsches Selbstbild. Oder: Isolierung - Intimität - Abhängigkeit.
*Der Unterschied zwischen psychiatrischen Notfall und Krise.(S 47f)
*Stein führt  außerdem Warnsignale an, die für eine Gefährdung in einer Krise sprechen.(S 53ff) Ergänzend dazu sei folgende Anmerkung gestattet: Der Rezensent hat aus Untersuchungen verschiedener Altersgruppen drei Faktoren heraus gefunden, die noch vor der suizidalen Einengung eine Suizidgefährdung andeuten können: Hilflosigkeit (sich nicht helfen können, Probleme nicht bewältigen, negative Kontrollüberzeugung), Haltlosigkeit (keinen Halt im System finden, keine stützenden Kontakte, keine Vernetzung), Hoffnungslosigkeit (kein Sinnerleben, kein Sinnhorizont)..

Stein greift  subtile Situationen auf, z.B. lösen Verluste manchmal starke Ambivalenzen aus, (S 114): Neben Trauer oft auch Wut, Schuldgefühle. Diese Zwiespältigkeit muss zugelassen und besprochen werden. 
Anregend ist auch der Hinweis auf das Zwei-Konten-Modell von Mentzos: Das Grundkapital-Konto enthält alles, was uns an Urvertrauen und Selbstwertschätzung geschenkt wurde, das zweite Konto enthält Anerkennung für Leistungen. In Krisen leert sich das zweite Konto rasch und es muss auf das Grundkonto zugegriffen werden.

Trotz der Informationsdichte - es gäbe noch viel anzuführen - und trotz des nicht alltäglichen (aber immer öfter in den Brennpunkt gerückten) Themas gelingt es dem Autor klar und übersichtlich zu schreiben, nicht vom hohen Expertenturm herab, sondern auf gleicher Augenhöhe! Angenehm eingestreut sind Merksätze, Darstellungen, Tabellen! Auch Fallberichte kommen nicht zu kurz. Das Buch verdient eine große Leserschaft, denn es schafft, dass wir den auf uns möglicherweise zukommenden Krisen gefasster und kompetenter gegenüber treten!

 

 

 

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
08.12.2015
Link
https://bildung.schule.at/portale/bildung/rezensionen/existenz-entwicklung-tod/detail/psychotherapeutische-krisenintervention.html
Kostenpflichtig
nein