Schizophrenien; Wissen - Verstehen - Handeln. Brücken bauen zwischen Wahnwelten und Realität.
Es gelingt dem Autor, fast in einem narrativen, jedenfalls nicht dozierenden Stil interessante und zum Teil auch Standpunkte zurechtrückende Informationen zu vermitteln.
Buchtitel: Schizophrenien; Wissen - Verstehen - Handeln. Brücken bauen zwischen Wahnwelten und Realität.
AutorInnen: Rom J
Verlag: Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Erschienen: 2013
Zum Inhalt
Nach der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Wissen in seiner Objektivierbarkeit, Subjektivität und Widersprüchlichkeit wendet sich der Autor, Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker, dem Wissen um die Schizophrenie zu und zwar zunächst von der Außenperspektive und hier einerseits ein Teilobjekt fokussierend ( es handelt sich um Teilansichten des Menschen z.B. neuroanatomische, molekularbiologische, genetische und epigenetische etc.), andererseits aber die das Subjekt fokussierende Außenposition - der Mensch wird in seiner Erste-Person-Perspektive, d.h. seiner Selbsterfahrung gesehen, ebenso in der interpersonellen Perspektive, die sich mit der Interpersonalität, Interaktion befasst, und die Dritte-Person-Perspektive, die ein relativ objektiver Beobachter einnehmen kann, wenn er über ihn oder sie, die schizophrenen Menschen, Wissen sammelt). Es gibt aber auch - und das demonstriert der Autor hervorragend - die Innenposition, die versucht, den schizophrenen Menschen in seinem Erleben annäherungsweise zu verstehen. z.B. in seinem zum neurotischen Inhaltswiderstand noch hinzu kommenden Kontaktwiderstand.
Der Patient hat eine direkte Inneneinsicht, der Therapeut hingegen nur eine von außen kommende Ahnung der Innenposition des Patienten. Wie eine Brücke schlagen zwischen die Wahnwelten und der Realität? Der Autor versucht dies durch einen Blick über den Zaun: Er beschreibt neuere Erkenntnisse der Physik!
Die Idee ist originell: "Mein Weg zur therapeutischen Beziehungsbildung, zum gegenseitigen und gemeinsamen Verstehen führt über den Umweg der Physik und ihre ungelösten "Widersprüche" und "Verrücktheiten" (Seite 121). Die Quantenphysik bringt uns näher zur "Physik" des schizophrenen Menschen. Das aber ist die Frage: Wie verhalten sich Physik und "Physik" zueinander?
Am ehesten handelt es sich um eine Analogie der Art, dass, was im Großen der Natur gegeben ist, auch im Kleinen der therapeutischen Beziehung zum schizophrenen Patienten ähnlich möglich sein muss. Zwar sagt der Autor: "Nicht die Physik ist das Wichtigste, das wir von den Ausführungen zu Einstein mitnehmen wollen, sondern die Bereitschaft, Ereignisse aus einer anderen Perspektive zu betrachten, sogar, wenn sie uns falsch erscheinen." (Seite 135). Zugleich aber lobt er die Physik. Deren Theorien sind "auf vielen Ebenen durchdachte Gedanken zu uns und unserem Universum im Kleinen und Großen, die, um ernst genommen zu werden, den unbestechlichen mathematischen Gleichungen genügen und daraus gefolgert werden müssen. " ( Seite 154). Das physikalische Thema der Myriaden eigenständiger Universen, der sogenannten Multiversen "bildet eine Brücke, um zu den schizophrenen Menschen und ihren´Multiversen` zu gelangen"(ebd.). Wieder ist die Frage, wie verhalten sich die kosmisch angenommenen Multiversen zu den intrapsychischen mental repräsentierten "Multiversen"? Wenn man über die Ausführungen zur Relativitätstheorie, zur Quantenphysik, zur String-Theorie und zur Idee der Multiversen u. v. a. m. liest, denkt man möglicherweise an Alan Sokal und Jean Bricmont, die der Einfügung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, sowie mathematischer Formeln in einen vom Menschen handelnden Text - zur Untermauerung der „Wissenschaftlichkeit“ - außerordentlich misstrauisch und ablehnend gegenüber stehen und diese Praktik als „eleganten Unsinn“ abqualifizieren. Diesen Vorwurf kann man aber Rom nicht machen. Er sucht keine Bedeutungssteigerung. Er will sein Konzept auch nicht durch eine vereinfachende Metapher leichter verständlich machen. Die komplizierten oben angeführten Theorien erfüllen nicht das Kriterium der Verständlichkeitserleichterung durch Vereinfachung. Er will die Realität als irrlichternde Vielfalt kennzeichnen, in der es „verrückter“ zugeht als in der Welt des Schizophrenen. Eine Welt, in der völlige Gegensätze nebeneinander existieren, z.B. Welle oder Korpuskel, Zeitbewegung in alle Richtungen und unidirektionaler Zeitpfeil, Relativitätstheorie und Quantenphysik - was die Hoffnung weckt, dass die beiden unterschiedlichen Realitätswahrnehmungen von Therapeut und Patient auch koexistieren dürfen, bi sich im dualen Raum eine Brücke über die zwei inkompatiblen Welten (Außensicht des Therapeuten und Innensicht des Patienten) bildet. Dafür gibt es freilich in der Physik noch wenig Hoffnungsvolles bezüglich der Brücke über Relativitätstheorie und Quantenphysik.
Eine andere Frage wirft sich noch grundsätzlich auf. Roms Antwort auf die Frage, wie man sich einem Verstehen der inneren Welt des schizophrenen Menschen annähern könnte, ist die Anleihe bei der Physik, über den Menschen wird daher ein naturwissenschaftlich orientiertes Gedankennetz gestülpt. Es wird die Strukturgleichung zwischen Wahnwelten und - naturwissenschaftlicher - Realität gesucht. Erfasst man aber auf diese Weise den Menschen, den ganzen Menschen? Wie steht es mit seinen Emotionen, Motiven, Sinnstiftungen, mit seinem kreativen und produktivem Potential? Man könnte, was ja auch schon geschehen ist, über die Malereien, Texte und anderen kreativen Schöpfungen von schizophrenen Menschen ebenso einen Einblick in ihre Welt suchen. Rom bringt also eine spezifische Betrachtung ein, die aber eine große Originalität beanspruchen kann. Man kann dem Autor allerdings attestieren, dass er sich des Stückhaften bewusst ist, sonst würde er nicht von Teilobjekten reden. Der Psychotherapeut und vor allem der Psychoanalytiker im Autor grenzen den Psychiater mit seiner naturwissenschaftlichen Denkweise ein, sodass keine Überbewertung etwa der neurobiologischen Befunde stattfindet.
Die Leserschaft wird zweigeteilt reagieren, die einen werden die interessanten Erkenntnisse der modernen Physik als unerwartetes Geschenk in einem Buch über den therapeutischen Umgang mit Schizophrenen werten, die anderen werden das Ausmaß dieser Physik-Lektionen im Umfang von rund 30 Seiten für die Analogiebildung und das Loslassen von Vorstellungen über die Welt als überdimensioniert empfinden bzw. den Zugang über die Physik an sich möglicherweise als reduktiv ansehen.
Abseits von dieser Erörterung des Verstehens über die Brücke der Physik enthält das Buch noch einen Teil C, der sich nach dem Teil A (Wissen) und Teil B (Verstehen) mit dem Handeln befasst, womit hauptsächlich die Fortbildung gemeint ist. Nach einer Analyse der Fortbildungssituation wird ein Fortbildungsmodell vorgeschlagen, das für eine Integration verschiedener Schizophrenieperspektiven in Theorie und Praxis sorgt. Für Seminarprofis ist das Fortbildungsmodell allerdings nicht so ungewohnt, enthält aber viele wertvolle Impulse, so z.B. eine Auslosung von Beiträgen, eine wechselnde Auseinandersetzung mit dem Thema aus systemischer, verhaltenstherapeutischer und aus tiefenpsychologischer Perspektive, eine Berichtlegung und Auswertung in verschiedenen Settings u. v. a. m.
Um dem Buch von Josi Rom gerecht zu werden, muss man auf die vielen Anregungen aus seiner reichhaltigen Erfahrung mit schizophrenen Patienten hinweisen. Man muss anführen, dass es ihm gelingt, fast in einem narrativen, jedenfalls nicht dozierenden Stil interessante und z.T. auch Standpunkte zurechtrückende Informationen zu vermitteln. Man muss vor allem darauf hinweisen, dass die Trennung zwischen Innenposition und Außenposition und die Beschreibung des Brückenschlags der Verständigung sowohl einen Lesegenuss, als auch eine wesentliche therapeutische Bereicherung darstellen!