Erziehen ohne Religion.
Argumente und Anregungen für Eltern.
Das Buch "Erziehen ohne Religion" - eigentlich verdiente es den grundlegenderen Titel "Erziehen ohne Denkzwang" - ist ein ganz wichtiges!
Buchtitel: Erziehen ohne Religion. Argumente und Anregungen für Eltern.
AutorInnen: Chossy U u Bauer M
Verlag: E. Reinhardt
Erschienen: 2013
Zum Inhalt
Zunächst muss etwas gesagt werden, bevor es zum Inhalt kommt: Das Buch ist außerordentlich ästhetisch gestaltet! Das Schriftbild ist aufgelockert, es gibt Tipps, Beispiele. Wichtiges wird grafisch hervor gehoben durch Kreise, Kästchen, Balken und durch ein warmes Orange, jedes Kapitel beginnt mit einem Kinderfoto in Sepia - ein sehr sympathischer Ersteindruck.
Das Bestreben der Autoren geht dahin, "dass Kinder ohne religiöse Umwege moralisch denken und urteilen lernen, dass sie prosozial handeln und dass man Werte und Tugenden nicht religiös aufoktroyieren, sondern durch kritisches Nachdenken gemeinsam aufbauen sollte." So der bekannte Entwicklungspsychologe Rolf Oerter im Geleitwort (Seite 7). "Religionsfreie Erziehung ermöglicht es, Kinder auf ein selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Leben vorzubereiten", sagen die Autorin und der Autor (Seite 10) und senden an die Leser/innen zwei Botschaften: Es gibt zunehmend mehr religionsfreie Menschen, man steht nicht allein da; und Religionsfreiheit geht nicht einher mit "Leerstellen", sondern kann sehr viele Werte und Überzeugungen aufweisen.
Das Buch befasst sich mit den entwicklungspsychologischen Grundlagen der Moralentwicklung, mit Argumentationshilfen für eine religionsfreie Erziehung, mit der Vermittlung von Werten und Tugenden, mit Krisenbewältigung, mit weltlichen Festen und Feiern und mit dem Umgang mit Religionsfreiheit in der Kindertagesstätte und in der Schule. Ein Serviceteil mit Literaturempfehlungen für Eltern, nützlichen Adressen und Kontakten rundet das Buch ab.
Das Buch weist viele interessante Informationen auf, z.B. die Ausführungen zur biologischen Grundlage und Hirnforschung betreffend Gotteserlebnisse: Gottesmodule, Gottesgene, ein spirituelles Gehirn werden als Möglichkeiten eingebracht (S34ff) mit dem Fazit, dass neurologisch und genetisch eine Inklination des Menschen zum Religiösen gegeben ist, dass aber religionsfreie Menschen keinen Mangel aufwiesen, sondern ganz bei Sinnen wären (Seite 37). Diese letztgenannte Schlussfolgerung wird nicht explizit erklärt. Sehr informativ und hilfreich sind auch die religionsfreien, philosophischen Antworten auf die Fragen zu Tod und Sterben, z.B. dass keine Energie verloren geht, alles bleibt irgendwie erhalten usw. (Seite 78f). Interessant auch die Idee einer Checkliste für die Überlegung, ob eine Auseinandersetzung wegen der (Behinderung der) religionsfreien Haltung des Kindes berechtigt ist und ob sich der kämpferische Aufwand lohnt (Seite 127f).
Überhaupt ist die ganze thematische Aufbereitung des Themas hilfreich gestaltet. Von den vielen brauchbaren Tipps seien einige angedeutet: Erziehen Sie die Kinder zum Selbst-Denken.. Respektieren Sie möglichst früh die Meinung Ihres Kindes.. Begründen Sie Regeln und Normen argumentativ..Regen Sie Ihr Kind immer wieder an, sich in andere hineinzuversetzen..Feiern ist auch ein Stück Lebensqualität.. und vieles andere mehr. Positiv ist auch die Überlegung, wie man in Schule und Kindertagesstätte gegen Voreinstellungen ankämpfen kann, überhaupt ist der Tenor Diskussion statt Dogmen!
Einige Anfragen seien aber gestattet:
1) Die Humanismus-Definition als "Weltanschauung von Menschen ohne Religion", (Seite 12) oder als "ein erfülltes Leben ohne Religion" (Seite 13) mit der Junktimierung von Humanismus mit Atheismus und Agnostizismus ist nicht zwingend, eigentlich ist der Humanismus eine Lehre und Haltung, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht. Ob mit oder ohne Religion, bleibt offen. Alle in Österreich anerkannten Psychotherapien mit humanistisch-existenzieller Orientierung gehen von der Selbstgestaltung des Menschen aus - dies entspricht auch der von den Autoren des vorliegenden Buches zitierten Definition von Wolf: "Humanismus als Lebensform der Selbstkultivierung" (Seite 51). Religionslosigkeit ist dabei kein Kriterium.
2) Die Autoren plädieren für das Feiern von Festen. Im Wesentlichen sollte es dabei darum gehen, eine fröhliche Zusammenkunft, Gemeinschaft zu erleben, wann immer Lust zu einem Fest besteht, ein externer Anlass ist dafür nicht unbedingt nötig. Stattdessen schildern die Autoren Namensgebungsfeste, Jugendfeiern und vor allem an den Jahreslauf angebundene Feste wie Sommersonnwende, Wintersonnwende, Lichtfest, Tag- und Nachtgleiche. Der Rezensent fühlt sich etwas beklommen bei der Vorstellung, dass dem religionsfreien Menschen ein Naturkult mit Feierterminen aufgezwungen werden könnte. Man denke auch an den kultischen Pathos bei Eröffnungen von Olympiaden.
3) Philosophisches/ Psychologisches:
a) Die Autorin bekennt sich zum Atheismus, der Autor zum Agnostizismus. Was fehlt, ist die Angabe, welche Haltung gegenüber der Welt eingenommen wird, etwa Materialismus bzw. Naturalismus? Vorteile, Nachteile?
b) Werden Toleranz und Verantwortungsübernahme durch den Konstruktivismus (jeder lebt in seiner eigenen Welt, niemand ist fehlerlos) erleichtert? (Seite 45) Sicherlich, zumindest kognitiv, aber ob man damit auch die emotionalen Reaktionen auf den eigenen Vorstellungen zuwiderlaufende Verhaltensweisen bändigen kann? Werden Gefühle wegdiskutiert?
c) Überhaupt ist die Forderung nach vielen Diskussionen über Meinungsverschiedenheiten, das Erklären statt Vernebeln (Seite 66) wertvoll, aber könnte dies im Extrem auch gefährdet sein, Intellektualismus und emotionales Abspalten (Isolierung) zu begünstigen?
d) Philosophie-Unterricht zu fördern, ist ein wertvoller Gedanke. Ethik wird aber abgelehnt. Ethik ist ein Teil der Philosophie, die das Verhalten begründende Moralphilosophie. Dass der Ethik-Unterricht an manchen Orten selektierend, d.h. wohl voreingenommen gehandhabt wird, sollte das ausführlicher aufgezeigt werden, ohne aber Ethik als Fach zu diskreditieren? (Seite 42).
e) Die Argumentation gegen die Religion ist manchmal scharf, wohl auch als Reaktion auf entsprechendes Verhalten des Gegenübers. Könnte ein freierer Umgang mit Religion gefunden werden, innerlich befreit, tolerant, nicht bedroht? Sind manche Argumentationen nicht eher schwach (Seite 61), wie etwa, dass es in der Bibel (konkretes Beispiel: Paulus im Korintherbrief verflucht Ungläubige), Negatives wie z.B. Intoleranz gibt? Gehörte hier das Wissen um Hermeneutik, Exegese etc. dazu, Bibeltexte nicht literalistisch (buchstäblich) zu lesen?
f) Die Ausführungen zu den Kohlbergschen Stufen der Moralentwicklung und Gerechtigkeits-Ethik sind wertvoll, sollten aber nicht auch andere Ansätze berücksichtigt werden, wie z.B. die Fürsorge-Ethik von Gilligan, wo es weniger um Allgemeines, sondern um Einzelnes, Individuelles geht?
Unbeschadet dieser Anfragen: Das Buch "Erziehen ohne Religion" - eigentlich verdiente es den grundlegenderen Titel "Erziehen ohne Denkzwang" - ist ein ganz wichtiges! Es greift ein aktuelles Thema umfassend auf, macht Mut zur eigenen Position und regt auch dazu an, die Entscheidung für eine Lebensweise ohne Religion zu reflektieren und bewusst zu gestalten. Es wirft sicherlich viele Fragen auf und da und dort auch Meinungsunterschiede - aber damit ist ein Anstoß für Auseinandersetzung gegeben, für Meinungsaustausch und für ein Denken und Diskutieren, das Gräben überwindet!